Ende 1923 erhielt die Westfälische Straßenbahn noch einmal einen bemerkenswerten Transportauftrag im Güterverkehr. Nach Recherchen von Wolfgang R. Reimann in den Verwaltungsberichten der Städtischen Straßenbahn Dortmund transportierten die Elektrischen Strassenbahnen des Landkreises Dortmund und die Westfälische Straßenbahn bis Anfang Mai 1924 gemeinsam 7.240 Tonnen Kohle über eine Wegstrecke von rund 35 Kilometern von der Zeche Dorstfeld in Dortmund zur Henrichshütte in Hattingen.
EINSCHRÄNKUNG DES BAHNVERKEHRS
Seit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 waren Gütertransporte auf Staatsbahnstrecken stark eingeschränkt. Besonders betroffen war der Kohleverkehr zu den Betrieben der Schwerindustrie.
Die Henrichshütte war auf Kohle angewiesen. Um den dringend benötigten Brennstoff zu beschaffen, wurden alle Möglichkeiten genutzt, auch der Transport mit der Straßenbahn, für den nach wie vor die 1917 erteilte, bis 1926 gültige Genehmigung der Aufsichtsbehörde vorlag.
Die Westfälische Straßenbahn hatte Anfang der 1920er-Jahre bereits umfangreiche Erfahrung im Gütertransport. Die Elektrischen Strassenbahnen des Landkreises Dortmund transportierten seit 1917 unter anderem Kohle, Stückgut und Kartoffeln.
Für die während des Ersten Weltkriegs durchgeführten Kohletransporte, hatte der Landkreis Dortmund mehrere Selbstentladewagen mit fünf Tonnen Ladegewicht bei dem ortsansässigen Hersteller Orenstein & Koppel beschafft. Im Geschäftsbericht 1924 werden zudem zwölf zusätzlich für den Kohletransport hergerichtete Transportwagen erwähnt. Im Bestand der Westfälischen Straßenbahn waren zum Jahreswechsel 1923/24 insgesamt 23 Güterwagen mit zehn Tonnen Ladegewicht sowie fünf offene Güterwagen mit fünf Tonnen Ladegewicht.
LADEGLEIS BRUCHER STRASSE
1922 hatten die Hattinger Kreisbahnen in Welper mit dem Bau der Strecke nach Stiepel begonnen. Diese zweigte in Höhe der Einmündung der Marxstraße von der Stammstrecke Hattingen – Blankenstein ab. Die Trasse führte über die Brucher Straße zur Kosterbrücke.
Unmittelbar hinter dem Abzweig wurde eine Weiche für ein Güterladegleis eingebaut. Die Henrichshütte verlegte parallel dazu ein Gleis der Werksbahn, so dass ein direkter Güterumschlag zwischen Werks- und Straßenbahn möglich war.
Auf der ersten Luftaufnahme des nachfolgenden Sliders aus dem Jahr 1925 (© RVR – 1925-1930 – dl-de/by-2-0) ist das Gütergleis der Henrichshütte neben der Brucher Straße gut zu erkennen. Auf dem Hüttengleis waren zum Zeitpunkt des Überflugs vier Waggons abgestellt. Wie lange das Straßenbahngleis existierte, ist fraglich. Auf der zweiten, späteren Aufnahme (© RVR – 1951-1980 – dl-de/by-2-0) ist es bereits abgebaut. An seiner Stelle errichtete die Henrichshütte eine neue Werksmauer, neben der ein auf der Linie 15 eingesetzter Straßenbahnwagen zu erkennen ist. Das dritte Bild zeigt die gleiche Situation nach dem Bau der neuen Hüttenstraße (© RVR – 1957-1980 – dl-de/by-2-0).
Die Kohlentransporte von Dortmund zur Henrichshütte wurden am 13. Dezember 1923 aufgenommen. Die letzte Fahrt wurde am 6. Mai 1924 durchgeführt. Aufgrund eines Streiks der Mitarbeitenden der Henrichshütte waren die Transporte vom 2. bis zum 27. Januar 1924 unterbrochen.
Wie in der nachfolgenden Statistik aus dem Geschäftsbericht der Westfälischen Straßenbahn für das Jahr 1924 ersichtlich ist, wurde im April 1924 mit rund 2.500 Tonnen die maximale Monatsmenge erreicht. Nach dem Abschluss der Kohletransporte zur Henrichshütte im Mai 1924 sank die Transportmenge im Juni auf etwa 700 Tonnen (Westfälische Straßenbahn GmbH – Sammlung Ludwig Schönefeld).
OFFENE FRAGEN
Über welche Strecken der Kohletransport von Dortmund nach Hattingen im Detail abgewickelt wurde, ist nicht bekannt. Es liegt jedoch nahe, dass die Züge von Lütgendortmund über Harpen nach Bochum fuhren, nachdem es 1920 versuchsweise auch einen Kohleverkehr von der Schachtanlage Lothringen I/II in Gerthe zur Henrichshütte gegeben hatte. Die Hattinger Kreisbahnen hatten dafür ohne landespolizeiliche Genehmigung ein erstes Anschlussgleis vom Streckengleis in der westlichen Brucher Straße zur Steinfabrik der Henrichshütte angelegt.
Ungeklärt ist insbesondere, wie der Güterumschlag der für die Henrichshütte bestimmten Kohle an der Zeche Dorstfeld erfolgte und wie die Kohle in Lütgendortmund von den normalspurigen Güterwagen der Landkreisbahn in die meterspurigen Güterwagen der Westfälischen Straßenbahn umgeladen wurde.
Die Genehmigung für den Kohleverkehr hatten die zuständigen Aufsichtsbehörden bereits im Frühjahr 1923 erteilt. Geplant waren bis zu 16 Fahrten pro Tag. Tatsächlich dürften nach der Aufnahme der Transporte im Dezember 1923 sechs bis acht Güterzüge pro Tag unterwegs gewesen sein. Nur so war es rechnerisch möglich, die dokumentierten 7240 Tonnen Kohle mit einem 10-Tonnen-Güterwagen pro Fahrt von Lütgendortmund nach Hattingen zu transportieren.
Als Zugfahrzeuge kamen sowohl bei den Landkreisbahnen als auch auf dem Netz der Westfälischen Straßenbahn Triebwagen des Personenverkehrs zum Einsatz, bei der Westfälischen Straßenbahn darüber hinaus die 1920 speziell für den Kohletransport in Betrieb genommenen Elektrolokomotiven (Betriebsnummern 570 bis 578).
UNZULÄNGLICH
Der Kohletransporte von Dorstfeld zur Henrichshütte hielten sich nur für kurze Zeit. Wolfgang R. Reimann zitiert eine Quelle, nach der die Transporte so unzulänglich gewesen seien, dass von einer kombinierten Personenbeförderung abgesehen wurde. Solche kombinierten Fahrten gab es zuvor insbesondere auf der Verbindung von Witten-Annen nach Castrop.
Ein Grund dafür dürfte der schlechte Zustand der Gleisanlage gewesen sein, der häufig zu Zwischenfällen führte. Stellvertretend dafür zeigt das Beitragsbild einen im Güterverkehr verunglückten Kohlenzug der Westfälischen Straßenbahn. In welcher Phase des Straßenbahngüterverkehrs das Foto entstand, ist nicht dokumentiert. Aufgenommen wurde es vermutlich im Verlauf der Provinzialstraße, an der Ausweiche zwischen dem Bahnhof Langendreer und der Wilhelmhöhe (Westfälische Straßenbahn GmbH – Sammlung Wolfgang R. Reimann).